Die Müller-Lyer-Täuschung

Vergleicht man die Länge der Linien in den beiden Figuren, so erscheint die obere Strecke länger als die untere! Tatsächlich sind die beiden Linien aber exakt gleich lang!

Unser Wahrnehmungssystem vergleichtOriginalfigur im 19. Jahrhundert von F.C. Müller-Lyer nur die „freie Länge“, die in der Skizze mit roten Trennlinien abgegrenzt ist.

Die „freie Länge“ bezeichnet also den Abschnitt der Linie, der seitlich nicht von anderen Objekten wie z.B. einer Pfeilspitze umgeben ist.

Die rechts abgebildete Originalfigur ist im 19. Jahrhundert von F.C. Müller-Lyer entdeckt worden.17

Zur Entstehung dieser Täuschung gibt es verschiedene Theorien:

Erklärungsansatz von R. Gregory

Ein Erklärungsansatz, der Erklärungsansatz von R. Gregoryvor allem von R. Gregory vertreten wird, macht die räumliche Verarbeitung der Figur für die Täuschung verantwortlich: tatsächlich sind Täuschungen wie die Müller-Lyer-Illusion im Alltag in zweidimensionalen Darstellungen (also auch im Netzhautbild) dreidimensionaler Szenen enthalten. Dabei werden sie allerdings nicht als Täuschung, sondern als Bestandteil der perspektivischen Darstellung bzw. Abbildung wahrgenommen. Dies kann man sehr schön in der Abbildung von Roberto de Rubertis38 beobachten.

Die Vertreter dieser Theorie vermuten, dass unser Wahrnehmungssystem aus der bekannten Linienkonfiguration auf die Lage der Linie im Raum schließt und die Netzhautbildgröße mit der scheinbaren Entfernung verrechnet. Nach dem Emmertschen Gesetz erscheint darum die Linie mit den zur Geraden hin zeigenden Pfeil-spitzen länger als dieselbe Linie mit umgekehrt orientierten Pfeilspitzen.17

Diese Theorie kann allerdings die Täuschung bei Linien mit anderen Randelementen nicht erklären; auch die Illusion bei fehlenden Linien – wie unten abgebildet – ist damit nicht begründbar.

Kontrast- und Assimilationstheorie

Die sog. Kontrast- und Assimilationstheorie Kontrast- und Assimilationstheoriegeht davon aus, dass bei der Objektwahrnehmung verschiedene Elemente einander angeglichen oder voneinander differenziert werden. Optische Täuschungen resultieren demnach aus Überbewertungen (Kontrast) oder Unterbewertungen bzw. Angleichungen (Assimilation).17 Bei der Müller-Lyer-Täuschung liegt vermutlich Assimilation vor: die Länge der Linie mit den zur Geraden hin zeigenden Pfeilspitzen wird der Gesamtlänge der Figur angeglichen. Diese Angleichung fällt schwerer, wenn sich die Pfeilspitzen stärker von der Linie abheben, z.B. sich farbig unterscheiden; die Täuschung fällt dann geringer aus.17

Eine weiterer Erklärungsversuch basiert auf der Grundlage, dass unser visuelles System verschieden scharfe Details auf unterschiedlichen Kanälen verarbeitet.

Die Gittersehschärfe, d.h. die maximal auflösbare Ortsfrequenz (Perioden pro Grad Sehfeld; eine Periode entspricht in einem Rechteckgitter einem dunklen + einem hellen Streifen) – spielt hierbei eine große Rolle. Für unterschiedliche Ortsfrequenzen ergeben sich z.B. unterschiedliche Schwellen für die Kontrastempfindlichkeit, was auf verschiedene Verarbeitungskanäle hinweist.

Außerdem kann jedes Objekt rechnerisch aus vielen verschiedenen Gittern zusammengesetzt werden, selbst scharfe Kanten können durch eine Summe von übereinanderprojizierten Gittern dargestellt werden; dabei gilt: je mehr hohe Ortsfrequenzen beteiligt sind, desto schärfer erscheinen die Kanten des Objektes.

Wird ein Objekt auf diese Art in seine Ortsfrequenzen zerlegt, spricht man von Fourier-Analyse.

Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass eine hohe Sehschärfe mit einer guten Verarbeitung (Kontrastempfindlichkeit) für hohe Ortsfrequenzen verbunden ist, da diese für eine hohe Schärfe von Linien und Kanten verantwortlich sind.22

Führt man nun für ein optisches Objekt eine Fourier-Analyse durch und ermittelt dadurch den Ortsfrequenzgehalt, kann dieses Objekt modifiziert werden. Dies erfolgt in der Regel dadurch, dass bestimmte Ortsfrequenzen herausgefiltert werden, bevor die verbleibenden Ortsfrequenzen wieder summiert werden. Werden dabei die hohen Ortsfrequenzen herausgefiltert, spricht man von einer Tiefpassfilterung, während bei einer Bandpassfilterung Ortsfrequenzen eines bestimmten Bereiches eliminiert werden. Dadurch erhält man Informationen darüber, welche Gewichtung den einzelnen Ortsfrequenzbereichen bei der Verarbeitung durch das visuelle System zukommt.

Nach einer Tiefpassfilterung der Müller-Lyer-Täuschung zeigen sich beim rekonstruierten Bild Eigenschaften, die der Wahrnehmung bei der ungefilterten Figur entsprechen:

Die Linie mit den nach außen zeigenden Pfeilspitzen verschwimmt mit diesen zu einem verkürzten Balken, während dieselbe Linie mit den umgekehrt orientierten Pfeilspitzen als verschwommener langer Balken wahrgenommen wird.39

Allerdings haben neuere Untersuchungen mit 2-D Fourier-Transformierten gezeigt, dass die Täuschung nicht von einer bestimmten Amplitudenverteilung abhängt – was gegen die Theorie spricht, dass die Müller-Lyer-Täuschung das Resultat einer Tiefpassfilterung ist.40

Einige Varianten der Müller-Lyer-Täuschung:

Die Täuschung funktioniertVariante der Müller-Lyer- Täuschung auch ohne Verbindungslinie, wie man in der Abbildung sehen kann: auch hier wird der Abstand der Elemente falsch eingeschätzt.

 

Auch Elemente, die sich auf der Linie befinden, werden beeinflusst: in der rechten Abbildung, der sog. Judd-Täuschung Judd- Täuschungscheint der Punkt aus der Mitte verschoben, obwohl er genau mittig platziert ist.

 

Man kann bei den Varianten allerdings feststellen, dass die Illusion nicht bei allen Randelementen gleich stark empfunden wird. Bei Pfeilspitzen wurde außerdem festgestellt, dass die Täuschung umso stärker ausfällt, je weiter die Winkel von 90° abweichen; auch die Orientierung der Pfeilspitzen spielt eine Rolle: so erzeugen die stumpfen Winkel der nach innen weisenden Pfeile eine 2-3 mal stärkere Täuschung als die entsprechenden nach außen weisenden Pfeilspitzen. 39

Literaturverweise:
17 Wahrnehmung – I. Rock – 198517 Wahrnehmung – I. Rock – 1985
22 Der Einfluss der Kontrastempfindlichkeit auf geometrisch-optische Täuschungen – B. Lingelbach – 1984
38 Progetto e percezione / Officina Edizione – Roberto de Rubertis – 1971
39 Geometrisch-optische Täuschungen – B. Gillam – 1987
40 Amplitude and phase in the Müller-Lyer illusion – B.C. Skottun – 2000
Autor: Prof. Dr. Bernd Lingelbach